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3. September 2024

Leistungsplus auf fitgemachten Strecken

Die Reaktivierung von Bahntrassen birgt große Potenziale für die Mobilitätswende

Mehr Anbindungen an die Schiene, kürzere Wege zu den Stationen und ein Leistungsplus von 1.275.000 Zugkilometern Elektromobilität: Darauf zielen die fünf Streckenreaktivierungen, die im SPNV in Nordrhein-Westfalen bis 2027 am Start sind. Auf den wiederbelebten Schienenwegen wird lokal emissionsfreie Mobilität für viele Menschen in Nordrhein-Westfalen möglich.


Im Stolberger Stadtteil Breinig freuen sich gut 4.700 Einwohner auf den Fahrplanwechsel im Dezember 2024. Nach mehr als 60 Jahren sollen dann wieder Personenzüge den Breiniger Bahnhof bzw. den neuen Haltepunkt der Euregiobahn anfahren. Die beliebte Regionalbahn in der Städteregion Aachen hat seit ihrer Betriebsaufnahme im Juni 2001 eine rasante Entwicklung hingelegt. Waren in den Anfangsjahren auf der neu eröffneten Kernstrecke zwischen Heerlen, Aachen und Stolberg-Altstadt durchschnittlich schon 2.600 Fahrgäste an jedem Wochentag unterwegs, so sind es heute fast 14.700. Die Reaktivierung der Trasse zwischen Stolberg-Altstadt und Breinig wird ein weiteres Kapitel der Erfolgsgeschichte. Denn die Fahrgastzahlen der Euregiobahn steigen mit dem kontinuierlichen Ausbau des Angebots, der vornehmlich durch die Reaktivierung einst stillgelegter Trassen möglich wird. Gleichzeitig wird das gesamte Streckennetz elektrifiziert: ein wichtiger Beitrag für mehr emissionsfreie Mobilität. 

223 Schienenkilometer in NRW wurden bereits reaktiviert

Die Euregiobahn ist ein Paradebeispiel für die Chancen, die sich durch die Reaktivierung stillgelegter Bahnstrecken für die Mobilitätswende in Nordrhein-Westfalen ergeben. Mehr Menschen fahren mit der Bahn, wenn sie einen direkten Schienenanschluss haben. Infrastruktur und Angebot müssen stimmen. Das hat man lange Jahre nicht bedacht. Zwischen 1955 und 2019 wurde deutschlandweit fast ein Drittel des Schienennetzes stillgelegt, das Gesamtnetz um circa 15.000 Kilometer verkleinert. Der Grund dafür war eine weitreichende Vernachlässigung der Infrastruktur, die in eine Abwärtsspirale mit Angebotsreduzierungen und sinkenden Nutzerzahlen führte. Nur selten Maßnahmen wurden ergriffen, um Strecken wieder attraktiver zu machen. Die Stilllegung erschien einfacher und rentabler. In Nordrhein-Westfalen haben sich Projekte wie die Euregiobahn im Aachener Grenzland, die Regiobahn zwischen Kaarst, Mettmann und Wuppertal oder der Haller Willem zwischen Bielefeld und Osnabrück diesem Trend frühzeitig entgegengestellt, Strecken erworben, die für die damaligen Betreiber nicht mehr rentabel schienen, und diese für den Betrieb wieder instandgesetzt. Heute bildet die Reaktivierung stillgelegter Bahntrassen einen wichtigen Teil der Zielnetzkonzeptionen 2032 und 2040 des Landes Nordrhein-Westfalen. 223 Schienenkilometer wurden in den vergangenen 30 Jahren in NRW bereits reaktiviert. Rund 200 Kilometer sollen in den kommenden Jahren folgen. 

 

Fünf konkrete Reaktivierungsmaßnahmen bis 2027

Möglichst bis Dezember 2027 sollen in Nordrhein-Westfalen fünf konkrete Reaktivierungsmaßnahmen abgeschlossen sein. Dazu gehören der Teilabschnitt der Euregiobahn von der Stolberger Altstadt nach Breinig und eine weitere Strecke von Alsdorf nach Siersdorf. Darüber hinaus werden Schienenwege für die Niederrheinbahn sowie für die neuen Mobilitätsachsen am Teutoburger Wald und im Münsterland reaktiviert werden. Die fünf Streckenabschnitte summieren sich auf eine Gesamtlänge von 65 Kilometern. Zu den neuen Schienenwegen werden insgesamt 22 neue Stationen gebaut, wodurch fünf Kommunen erstmals einen direkten Bahnanschluss erhalten. Die Betriebsaufnahmen auf allen Verbindungen, die ausschließlich durch lokal emissionsfreie Elektro- oder batterielektrische Züge bedient werden, bedeuten ein Angebotsplus im SPNV NRW von etwa 1.275.000 Zugkilometern. Hier die fünf Maßnahmen im Überblick:  

Stolberg-Altstadt – Stolberg-Breinig

Der Neubau des Rüstbachviadukts gehört zu den besonderen Herausforderungen bei der Reaktivierung der Bahntrasse zwischen der Stolberger Altstadt und dem Stadtteil Breinig, die im März 2019 gestartet wurde. Schon zum nächsten Fahrplanwechsel im Dezember 2024 will die Euregiobahn die neue Teilstrecke eröffnen und bedienen.

Alsdorf-Kellersberg – Aldenhoven – Siersdorf - Lintfort

Nach der Verlängerung der Euregiobahn bis Stolberg-Breinig ist schon die nächste Maßnahme fest geplant: Bis 2027 werden auch die Schienenwege von Alsdorf-Kellersberg über Aldenhoven nach Siersdorf wieder fit gemacht und in das Netz der Regionalbahn eingebunden. Dabei bekommt die Kommune Aldenhoven erstmals einen direkten Bahnanschluss.

Moers – Kamp-Lintfort

Für die Niederrheinbahn wird die Reaktivierung und Modernisierung der zehn Kilometer langen Strecke zwischen Moers und Kamp-Lintfort fortgesetzt. Die Gleise wurden bereits zum Pendelbetrieb der Landesgartenschau im Jahr 2020 in Rekordzeit erneuert. Für den zukünftigen Regelbetrieb sind noch weitere umfangreiche Maßnahmen nötig, u.a. die Sanierung von Brücken und Bahnübergängen, der Umbau des Bahnhofs Moers-Rheinkamp oder die Anpassung der Leit- und Sicherungstechnik. Kamp-Lintfort bekommt erstmals einen eigenen Bahnanschluss.

Harsewinkel - Gütersloh - Verl

Auch die Reaktivierung der Teutoburger Wald Eisenbahn auf der „Mobilitätsachse“ zwischen Harsewinkel, Gütersloh und Verl soll bis Ende 2027 realisiert werden. Dabei bekommen Harsewinkel und Verl eigene Stationen und damit einen direkten Anschluss. Die neue Bahnverbindung soll künftig nicht nur eine schnelle und staufreie Fahrt zwischen den neun Haltepunkten in den drei Städten bieten, sondern auch Anschlüsse an den Schienenregional- und -fernverkehr, an den Bus-Regionalverkehr und an individuelle Verkehrsmittel. Die Bahnstrecke selbst, bislang für den Güterverkehr genutzt, erfährt dafür eine umfassende Modernisierung.  

Münster - Sendenhorst

Zum Prestigeprojekt für das Münsterland wird die reaktivierte Bahnverbindung zwischen Münster und Sendenhorst. Zwei standardisierte Bewertungen, die für Bahnprojekte dieser Größenordnung vorgeschrieben sind, haben gezeigt, dass diese Verbindungen einen wirtschaftlichen Mehrwert für die Region schaffen wird. Nur 29 Minuten soll die Fahrt zwischen dem Hauptbahnhof in Münster bis zum neuen Bahnanschluss in Sendenhorst dauern, dabei soll die reaktivierte Bahnstrecke zum Rückgrat eines multimodalen Mobilitätskonzeptes werden.  

Machbarkeitsstudien für weitere Streckenreaktivierungen

Nach Abschluss der Maßnahmen bis Dezember 2027 prüfen die Aufgabenträger für den SPNV in NRW weitere Streckenreaktivierungen. Das Land Nordrhein-Westfalen fördert dafür Machbarkeitsstudien zur baulich-technischen Umsetzbarkeit und zum wirtschaftlichen Nutzen.  

Insbesondere im Nahverkehr Westfalen-Lippe (NWL) sollen Streckenreaktivierungen die Verbindungen zwischen ländlichen Regionen, Mittel- und Oberzentren verbessern. Neben den laufenden Maßnahmen zwischen Münster und Sendenhorst sowie Harsewinkel und Verl ist die Reaktivierung der Röhrtalbahn in Planung – und auch zwischen Osnabrück und Recke ist eine Reaktivierung vorgesehen. Drei weitere Machbarkeitsstudien sind bereits abgeschlossen und noch sieben sollen bis Ende 2024 erfolgen. Die Machbarkeitsstudien bilden die Arbeitsgrundlagen für die nächsten Schritte. Steht die Finanzierung, erfolgt anschließend die ordentliche Planung einer Reaktivierung nach bundesweiten Standards inklusive standardisierter Bewertung, Entwurfs- und Genehmigungsplanung, Planfeststellungsverfahren, Umsetzung und Inbetriebnahme.  

Auch in den Zweckverbänden VRR und go.Rheinland bilden Streckenreaktivierungen wichtige Investitionsprojekte. So stellt etwa im VRR die Ruhrtalbahn auf der Strecke von Hattingen über Herbede und Wengern-Ost bis Hagen und Witten sowie auf der heutigen Güterzugverbindung von Wengern-Ost über Oberwengern nach Hagen ein volkswirtschaftlich sinnvolles Projekt dar. Im Zweckverband go.Rheinland steht u.a. der weitere Ausbau der Euregiobahn ganz oben auf der Agenda. Über den neuen Haltepunkt in Stolberg Breinig hinaus ist der Ausbau nach Walheim als „Schienenanschluss Nordeifel” avisiert. Außerdem haben sich die Euregio Verkehrsschienennetz GmbH und go.Rheinland auf eine Machbarkeitsstudie für die Reaktivierung der Trasse ab Breinig bis zur Bundesgrenze nach Eupen verständigt, die noch in diesem Jahr starten soll.  

 

Gute Gründe für Streckenreaktivierungen

Auch der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV), die Allianz pro Schiene und die nach Gemeinnützigkeitskriterien gesteuerte DB InfraGo unterstützen die Wiederbelebung alter Bahntrassen. Dafür sprechen vor allem drei Argumente:

Stärkung von Mittelzentren und strukturschwachen Räumen

Streckenreaktivierungen und der damit verbundene Neubau von Stationen können Mittelzentren und strukturschwache Räume stärken. Denn eine Anbindung an das Eisenbahnnetz stellt für Unternehmen nicht nur im Gütertransport einen Standortvorteil dar. Ein guter Zugang zum Nahverkehr auf der Schiene fällt bei immer mehr Berufspendler/innen bei der Wahl von Wohnort und Arbeitsplatz ins Gewicht.  

Geringerer Aufwand als kompletter Neubau

Deutschlandweit listet der VDV 332 Städte und Gemeinden, die durch Reaktivierungen an das Bahnnetz angeschlossen werden könnten. 3,4 Millionen Menschen könnten so einen direkten Zugang zum SPNV erhalten. Dabei ist eine Reaktivierung von Bahnstrecken häufig günstiger als ein kompletter Neubau. Dies ergibt sich daraus, dass Trassen-Flächen und Bahndämme meist noch vorhanden sind und sich damit der Aufwand von der Planung bis zur Realisierung reduziert. 

 

Ein Beitrag zum Klimaschutz

Reaktivierte Bahnstrecken ergänzen zumeist bereits bestehende Linien. So entstehen neue Verbindungen und neue Haltepunkte in der Fläche, die für Pendlerinnen und Pendler, aber beispielsweise auch touristisch relevant sein können. Damit sorgt die Schiene für eine Entlastung der Straßen: Wo attraktive Zugverbindungen bestehen, steigen die Menschen gern vom Auto auf die Bahn um. Reaktivierungen sind somit aus Umweltsicht sinnvoll, da sie zur Verkehrsverlagerung beitragen. 


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