Story
31. Oktober 2024

„Wir können zeigen, wie Entscheidungen beeinflusst werden“

Klima-Experiment der TU Dortmund

Verkehrspolitische Maßnahmen sind oftmals ein Tanz auf der Rasierklinge. Was kann gemacht, was muss angesichts des Klimawandels vielleicht sogar gemacht werden – und wie reagieren die Menschen darauf? Um das herauszufinden, haben Forschende der TU Dortmund das Klima-Experiment gestartet. 

© Julia Breuer, Deutsche Bahn AG
© Julia Breuer, Deutsche Bahn AG

Der Ticketpreis wird günstiger: Das zieht Menschen in Busse und Bahnen, ganz bestimmt. Ein Tempolimit in der Stadt? Da steigen doch noch mehr Menschen um! Aber bloß nicht zu viel auf einmal regulieren: Das mindert die Akzeptanz. Verkehrspolitische Maßnahmen sind oftmals ein Tanz auf der Rasierklinge. Was kann gemacht, was muss angesichts des Klimawandels vielleicht sogar gemacht werden – und wie reagieren die Menschen darauf? Diese Fragen sind nicht leicht zu beantworten. Repräsentative Umfragen kommen immer wieder zu dem Ergebnis, dass Menschen gerne mehr für den Klimaschutz beitragen würden. Doch oftmals ändern sie ihr Verhalten dann doch nicht. Um dieses Paradoxon zu erklären, haben Wissenschaftler/innen der TU Dortmund das sogenannte Klima-Experiment entwickelt. Das Tool ist mit tausenden Daten echter Menschen gefüttert – und kann errechnen, wie sich das Wahl des Verkehrsmittels ändert. Professor Johannes Weyer erklärt, was seine Forschung so einzigartig macht: 

 Lieber Herr Prof. Weyer, was hat es mit Ihrem Klima-Experiment auf sich?

 Johannes Weyer: Unser Klima-Experiment ist ein interaktives Computermodell, das es ermöglicht, verschiedene verkehrspolitische Maßnahmen zu simulieren, z.B. den Bau von Fahrradwegen, die Einführung eines Tempolimits oder die Veränderung von Ticketpreisen. Wenn wir die Parameter im Modell entsprechend anpassen, sehen wir, wie sich diese Maßnahmen auf das Verhalten der Menschen auswirken. Das Besondere an diesem Modell ist, dass es auf echten Verhaltens- und Einstellungsdaten von Menschen basiert. Unser Modell kann also zeigen, wie Entscheidungen für bestimmte Verkehrsmittel durch politische Maßnahmen beeinflusst werden. 

Wie werden die Daten präsentiert?

 Das Modell ist grafisch ansprechend gestaltet, sodass es leicht verständlich ist. Es kann bei Veranstaltungen genutzt werden, um gemeinsam mit dem Publikum `Experimente` durchzuführen und zu sehen, wie sich bestimmte Maßnahmen auf die Klimabilanz auswirken. Daher auch der Name. Ein wichtiger Aspekt bei unseren Betrachtungen ist die Akzeptanz der Bevölkerung, da Verkehrsmaßnahmen nicht nur CO2-Emissionen reduzieren sollen, sondern auch immer von den Menschen angenommen werden müssen.

Abbildung 1: Der Aufbau des Klimaexperiments mit drei Verkehrsmitteln (Pkw, ÖV, Rad), deren Wahrscheinlichkeit zur Erreichung unterschiedlicher Ziele (schnell, kostengünstig etc. reisen) auf Basis einer Studie im Projekt InnaMoRuhr, bei dem 10.782 Studierende und Universitätsmitarbeitende befragt wurden. Diese Parameter können im Experiment nach Belieben verändert werden, nicht aber den Wert von 0 % unter- bzw. von 100 % überschreiten. Der Akzeptanzwert von 68 Prozent zeigt die durchschnittliche Zufriedenheit sämtlicher 7.392 Personen, die bei den Berechnungen berücksichtigt werden konnten, mit ihrer Alltagsmobilität; der Wert der CO2-Emissionen in Höhe von 14,7 Tonnen gibt die Menge an, die alle 7.392 Universitätsangehörigen bei ihren täglichen Fahrten zu den drei Ruhr-Universitäten ausstoßen (ohne Freizeitwege etc.).
Abbildung 1: Der Aufbau des Klimaexperiments mit drei Verkehrsmitteln (Pkw, ÖV, Rad), deren Wahrscheinlichkeit zur Erreichung unterschiedlicher Ziele (schnell, kostengünstig etc. reisen) auf Basis einer Studie im Projekt InnaMoRuhr, bei dem 10.782 Studierende und Universitätsmitarbeitende befragt wurden. Diese Parameter können im Experiment nach Belieben verändert werden, nicht aber den Wert von 0 % unter- bzw. von 100 % überschreiten. Der Akzeptanzwert von 68 Prozent zeigt die durchschnittliche Zufriedenheit sämtlicher 7.392 Personen, die bei den Berechnungen berücksichtigt werden konnten, mit ihrer Alltagsmobilität; der Wert der CO2-Emissionen in Höhe von 14,7 Tonnen gibt die Menge an, die alle 7.392 Universitätsangehörigen bei ihren täglichen Fahrten zu den drei Ruhr-Universitäten ausstoßen (ohne Freizeitwege etc.).

Warum sind Daten darüber, welche Maßnahmen dazu führen, dass Menschen ihr Verhalten ändern, so wichtig? Gibt es solche Daten nicht bereits?

Wir haben ein Modell entwickelt, das das Mobilitätsverhalten realistischer abbildet als bisherige Modelle. Bisherige Ansätze, vor allem aus der Raumplanung und Verkehrswissenschaft, fokussieren sich sehr auf ökonomische Faktoren wie Zeit und Kosten. Diese Faktoren sind wichtig, aber nicht ausreichend. Es gibt Menschen, für die Geld eine große Rolle spielt und andere, denen Kosten egal sind. Unser Modell berücksichtigt diese Unterschiede viel stärker. Zudem berechnen wir das tatsächliche Mobilitätsverhalten nicht nur aus vergangenen Entscheidungen, sondern auch aus den Wünschen und Präferenzen der Menschen. Viele möchten beispielsweise gerne Fahrrad fahren, tun es aber nicht, weil die Bedingungen nicht stimmen. Unser Modell zeigt, was passieren würde, wenn diese Bedingungen verbessert würden. So können wir realistische Vorhersagen treffen.

Wie machen Sie das? 

Unser Modell basiert auf einem soziologischen Entscheidungsmodell, das die persönlichen Wünsche und Präferenzen sowie die jeweilige Lebenssituation der Menschen berücksichtigt. Diese Herangehensweise ist einzigartig, da bisherige Modelle oft nur das vergangene Verhalten betrachten und daraus zukünftiges Verhalten ableiten. Wir hingegen fragen nach den grundlegenden Einstellungen und Wünschen der Menschen. Das erlaubt es uns, die sogenannte "Attitude-Behavior-Gap" besser zu verstehen, also warum Menschen oft nicht so handeln, wie sie es eigentlich möchten. Ein Beispiel: Viele Menschen wollen umweltbewusst leben, fliegen aber trotzdem in den Urlaub. Unser Modell hilft zu verstehen, warum das so ist und welche Maßnahmen notwendig sind, damit das tatsächliche Verhalten mehr mit den Einstellungen übereinstimmt. Dies ist entscheidend für die Entwicklung effektiver und akzeptierter Maßnahmen.

Welche Datengrundlage haben Sie genutzt? 

Wir arbeiten mit Daten von über 10.000 Befragten der drei großen Ruhrgebietsuniversitäten. Obwohl die Mehrheit der Befragten Studierende ist, haben wir festgestellt, dass sich ihre grundlegenden Einstellungen nicht wesentlich von denen der Universitätsmitarbeitenden unterscheiden, wohl aber ihr Mobilitätsverhalten. Unser Ziel ist es, in Zukunft repräsentative Daten zu erheben, die die gesamte Bevölkerung besser abbilden. 

Welche verkehrspolitischen und verkehrstechnischen Maßnahmen haben Sie bei Ihrem Modell angenommen?

Zunächst einmal: Jede Maßnahme, die wir in unserem Modell annehmen, beeinflusst eine oder mehrere dieser sechs Dimensionen: Schnelligkeit, Kosten, Umwelt, Komfort, Sicherheit und Zuverlässigkeit. Jede Maßnahme verändert damit die Attraktivität der Verkehrsmittel. Ein Tempolimit beispielsweise macht das Auto langsamer und damit weniger attraktiv, während Fahrradabstellanlagen den Komfort des Radfahrens erhöhen. Unsere Maßnahmenliste umfasst Radschnellwege, das Deutschland-Ticket, eine Citymaut, hohe Parkgebühren, Radfahr-Parkhäuser oder eine verbesserte ÖPNV-Taktung. 

Was haben Sie herausgefunden?

Es klingt banal, aber zunächst einmal haben wir herausgefunden, dass jede Maßnahme eine Wirkung zeigt, manchmal klein, manchmal groß. Besonders effektiv ist die Kombination von Maßnahmen, wie das Fahrrad schneller und das Auto langsamer zu machen. Die Förderung des Radverkehrs zeigt enorme Wirkungen, weil viele Menschen das Fahrrad sehr attraktiv finden. Maßnahmen, die nur das Auto unattraktiver machen, senken die Akzeptanz. Beim ÖPNV führen eine bessere Taktung und Elektrifizierung zu mehr Fahrgästen und damit einer deutlichen CO2-Reduktion. Insgesamt zeigen unsere Experimente, dass es möglich ist, die CO2-Emissionen zu senken und gleichzeitig die Akzeptanz der Maßnahmen zu steigern. Hier sehen Sie einige Bespiele:

 

Abbildung 2: CO2-Einsparungen (26,7 %) bei gleichzeitiger Steigerung der Akzeptanz (um 5,5 Prozentpunkte (PP) von 68,0 auf 73,5) durch Steigerung der Attraktivität des Rads (30 PP schneller durch Radwege etc., 30 PP komfortabler durch Ampelvorrangschaltungen, Radparkhäuser etc.) bei gleichzeitiger Senkung der Attraktivität des Autos (30 PP langsamer durch Tempolimit, 30 PP weniger komfortabel durch Verringerung von Parkplätzen etc.). In Summe steigen 613 Menschen vom Auto (-363) bzw. ÖV (-250) auf das Rad um. Um diese Effekte zu erzielen, wurden parallel folgende Parameter verändert: Anteil Ökostrom 75 statt zuvor 50 Prozent; Anteil E-Autos 10 statt 2,5 Prozent; Elektrifizierung des ÖV 50 statt 20 Prozent; Anteil E-Bikes 50 statt 30 Prozent.
Abbildung 3: CO2-Einsparungen (29,1 %) bei gleichzeitiger Steigerung der Akzeptanz (um 1,3 Prozentpunkte von 68,0 auf 69,3) durch Steigerung der Attraktivität des ÖV (40 PP schneller durch bessere Infrastruktur, engere Taktung etc., 40 PP preiswerter durch Quasi-Nulltarif wie in Luxemburg, 40 PP komfortabler durch modernen Fuhrpark, attraktivere Bahnhöfe, besseren Service etc.) In Summe steigen 1.025 Menschen vom Auto (-935) bzw. Rad (-90) auf den ÖV um. Die geringere Akzeptanz als in Abb. 1 erklärt sich daraus, dass der ÖV generell schlechter bewertet wird als Auto und Rad. Um diese Effekte zu erzielen, wurden – genau wie in Abb. 1 – parallel folgende Parameter verändert: Anteil Ökostrom 75 statt zuvor 50 Prozent; Anteil E-Autos 10 statt 2,5 Prozent; Elektrifizierung des ÖV 50 statt 20 Prozent; Anteil E-Bikes 50 statt 30 Prozent.

Kann jeder Mensch in ihrem Experiment zu einem klimafreundlichen Verkehrsmittel bewegt werden?

Es gibt etwa 15 Prozent der Bevölkerung, die als "Autofreaks" bezeichnet werden können. Diese Menschen sind leidenschaftliche Autofahrer/innen. Egal, welche Maßnahmen wir ergreifen, sie werden ihr Verhalten nicht ändern und möchten am liebsten im Auto begraben werden. Diese Gruppe ist sehr lautstark und dominiert oft die öffentlichen Debatten, aber sie sind keine attraktive Zielgruppe für politische Maßnahmen.

Auf wen sollte die Politik stattdessen blicken?

Etwa 50 Prozent der Befragten sind unentschieden, da liegen die Beliebtheitswerte der verschiedenen Verkehrsmittel ganz dicht beieinander. Wir haben einen Mobilitätstyp "Pragmatiker" genannt. Das sind Leute, denen vor allem die Fahrzeit wichtig ist – die Umwelt aber nicht. Wenn ich also die Fahrzeit verringere, zum Beispiel durch Radschnellwege, dann fahren sie plötzlich Fahrrad. Das ist eine viel interessantere Gruppe als diejenigen, auf die wir typischerweise zielen: Die Ökoaktivist/innen, die Kampfradler/innen und die Autofreaks. Um die müssen wir uns nicht groß kümmern, sondern um die große Gruppe der Indifferenten oder pragmatisch Denkenden, weil wir dort mit kleinen Änderungen viel bewirken können. 

Welche Maßnahmen haben den ÖPNV attraktiver gemacht?

Der wichtigste Faktor ist die Fahrzeit. Schnellere und besser getaktete Verbindungen erhöhen die Attraktivität des ÖPNV erheblich. Komfort ist ebenfalls ein entscheidender Punkt. Viele Menschen nehmen den ÖPNV als unbequem wahr, obwohl es bereits viele Verbesserungen gibt. Sie wissen es aber schlicht nicht. Verbessern wir die Taktung und gleichzeitig die subjektive Wahrnehmung der Schnelligkeit und des Komforts des ÖPNV, wechseln etwa 10 Prozent der Autofahrer/innen hierhin. Und wie ändere ich die subjektive Wahrnehmung? Zum Beispiel durch eine App, die mir aufzeigt, dass ich meinen Arbeitsweg statt mit dem Auto zum Teil mit dem Zug und dann mit dem Rad viel schneller und bequemer absolvieren kann.

Lassen sich diese Daten auf ganz NRW übertragen? Was sollten Verkehrsakteure tun? 

Die zentrale Botschaft ist, dass wir verstehen müssen, wie unterschiedliche Menschen auf verschiedene Maßnahmen reagieren. Es reicht nicht, einfach überall dieselben Maßnahmen anzuwenden. Wir müssen die unterschiedlichen Mobilitätstypen in den Blick nehmen und gezielt adressieren. Wichtig: Wir sollten uns auf die pragmatischen und unentschiedenen Menschen konzentrieren. Die können durch die gezielte Kombination von Maßnahmen stark beeinflusst werden. Das bietet enormes Potenzial für eine effektive und vor allem akzeptierte Verkehrspolitik.

Anmerkung

Das Klimaexperiment existiert bislang nur als Live-Performance (auf Basis einer komplexen Excel-Datei). Eine Internetseite oder eine spielfähige Online-Version gibt es noch nicht. 

Zur Person

Johannes Weyer ist seit 2022 Seniorprofessor für Nachhaltige Mobilität an der TU Dortmund. Zuvor war er dort zwanzig Jahre lang als Professor für Techniksoziologie tätig. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten gehören die Steuerung (und Transformation) komplexer soziotechnischer Systeme und die Interaktion von Menschen und (autonomen) Maschinen.

In dem Buch „Die Echtzeitgesellschaft“ (2019) entwickelt er eine Diagnose der Gegenwartsgesellschaft, in der komplexe Systeme zunehmend mit Hilfe smarter Technik gesteuert werden. Von 2020 bis 2023 hat er das Projekt InnaMoRuhr geleitet, das vom Verkehrsministerium des Landes NRW gefördert wurde und in dem die drei Universitäten der Universitätsallianz Ruhr gemeinsam Konzepte künftiger Mobilität erforscht haben.

Quellen

Persönliches Telefonat mit Herrn Professor Weyer